Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 744, 745; A 716,717.
Das scheint trivial. Und doch enthüllt sich in diesem Zusammenwirken der stabilen mit beweglichen Linien eine originäre Verwandtschaft der graphischen Linie mit dem Stab bzw. dem Faden. Das Formenrepertoire der geraden und gekrümmten Linie, mithin die ‹Syntax der Lineatur› ergibt sich genau dann, wenn wir uns fragen, welche elementaren Operationen mithilfe von Stab (gerade Linie) und Faden (gekrümmte Linie) auf einer Fläche ausführbar sind. Stab und Faden bilden die material-körperlichen, kulturtechnischen Grundlagen der epistemischen Kraft von Linien. Der antike ‹Gnomon›, der ‹Schattenstab› der Sonnenuhr, ist Instrument der Zeitmessung durch Verräumlichung der Zeit qua Sonnenbewegung im Schattenwurf; ‹Gnomon› heißt aber auch der Winkelmesser des Handwerkers und ‹Gnomon› mutiert im Rahmen der pythagoreischen psephoi-Arithmetik zum Zahlenwinkel, mit dem regelhaft figurierte Zahlen so auszulegen sind, dass an ihnen arithmetische Zusammenhänge einsehbar werden. Handwerk und Denkzeug, Graphismus und Technik gehen auseinander hervor und verweisen aufeinander.
Die operative Rolle, die Diagramme beim Rechnen erfüllen, dechiffriert das Rechnen als eine geistige Tätigkeit, bei welcher der Geist geradezu zum Verschwinden gebracht wird, um einer mechanisch auszuübenden Bewegung auf dem Papier zu weichen. Ein Wunderwerk und Kunstgriff dieser Art von operativen Bildern besteht genau in dieser Umwandlung von Geist in Nichtgeist, in die Form einer Operation, welche ein Wissen, sowie Interpretation und Reflexion gar nicht voraussetzt. Als ‹Zahlenkunst› oder ‹intellektuelles Tun› ist das kaum anzusprechen. So wollen wir uns in einem letzten Schritt operativ wirksamen Diagrammen zuwenden, die ein ganz und gar intellektuelles Vermögen befriedigen: Einsichten zu gewinnen und dadurch auch Erkenntnisse zu rechtfertigen.
4. Beweisbilder
Das Wort ‹Diagramm› kommt aus dem Griechischen (διάγραμμα : diágramma) und bezieht sich auf die Umrisslinie einer Gestalt, wie sie klassisch in geometrischen Figuren Euklids gegeben ist – wiewohl schon aus der griechischen Antike uns eine mehrfache Bedeutung von ‹Diagramm› auch im Sinne von Bauvorschriften, Regeln, Schemata aller Art überliefert ist. Es ist Immanuel Kant, der uns ein instruktives auf Euklid zurückgehendes geometrisches Beispiel liefert, hier bestens geeignet unsere Liste zur ‹Grammatik der Diagrammatik› fort zu schreiben.
Kant interessiert sich für die Eigenarten des mathematischen Wissens, welches für ihn gerade nicht auf Begriffen und logischem Schlussfolgern beruht – also diskursiv ist – sondern in der (reinen) Anschauung gründet. [1]