Dieses Doppelleben von Abbild und Entwurf ist das Geheimnis der Schöpferkraft der Linie: Alles was ist und auch was nicht ist kann der Metamorphose des Linienförmigen unter‹zogen› und also auf die eine oder anderen Weise dargestellt werden; sogar das, was logisch widersprüchlich ist. Der Graphismus gleicht einer zweiten Form von ‹Sprache›, kehrt deren Modalitäten jedoch um: nicht einfach Sequenzen, sondern eine Simultaneität erzeugend, nicht sich verflüchtigend, sondern fixierend, nicht primär zeitlich, sondern räumlich in figurativer Anordnung organisiert.
3. Relation: Ein Linienzug stiftet Verbindung und damit Zusammenhang. Relationen zu zeigen, ist das ‹Heimspiel› des Diagramms. Nicht einzelne Gegenstände, sondern ein Verhältnis zwischen Gegenständen wird sichtbar gemacht. Was ist dieses ‹Verhältnis›? Im Sternenbild ist das einfach: wie immer der kulturelle Horizont beschaffen ist, der ‹seine›Sternenbilder hervorbringt: Die Zusammenfügung der Sterne zur Figur ist willkürlich; ihr entspricht kein realer Zusammenhang; wir haben diese Verbindung erschaffen. Doch wie verhält es sich beim Zahlenstrahl: links am Anfang die 0, dann in gleichen Abständen die Zahlen folgend... Auch hier ist die Linie Verbindung, sie zeigt die rationalen Zahlen als Aufeinanderfolge und Kontinuum. Doch sie kann dabei nicht willkürlich verfahren, die 7 kommt nach der 6 und nicht vorher.
Ein Sternenbild zeigt kein Sternengesetz, aber ein Zahlenstrahl zeigt ein Zahlengesetz. Und doch: wieso ‹steht› die Zahl 7 in der Zahlenstrahlvisualisierung rechts von der 6 oder, wenn es um negative Zahl -7 geht, links von -6? Eine Verräumlichung ist am Werk, welche die zeitliche Sukzession des Zählens in eine flächige Anordnung übersetzt, die einer spezifischen Richtung folgt. Linien sind nicht nur visuell, sie haben auch eine Ausrichtung, die an Formatierungsvorgaben und an unsere leibliche Organisation gebunden ist. Rechts oder links ist eine räumliche Orientierung, eine auf die Asymmetrie unserer Händigkeit bezogene Konvention, die mit Arithmetik zunächst einmal nichts zu tun hat.
Wir sehen also: wenn die durch den Linienzug vollzogene Verbindung nicht willkürlich ist, weil ihr etwas außerhalb der Linie in der wirklichen oder der begrifflichen Welt ‹entspricht›, dann homogenisiert die Linie die Elemente der Relation auf eine Weise, durch die sichergestellt ist, dass diese dem Ordnungsgesetz der Lineatur als einem Bezugssystem unterworfen werden können. Dieses Ordnungsgesetz ist der Spielraum von Differenzen, die durch zweidimensionale, räumliche Beziehungen sichtbar zu machen sind. Ist es ein Zufall, dass Spiele, diese differenzsetzende Praxis par excellence, auf die diagrammatische Markierung von Spielfeldern so häufig angewiesen sind?