In dem auf dem Papier entstandenen Zahlenraum, steigen die größeren Zahlen an: ‹je größer, je höher platziert›. Durch räumliche Anordnung wird eine universelle arithmetische Regel instantiiert.
Anders dagegen die Operationslinie. Ob eingezeichnet oder mit Faden und Lineal nur angelegt, sie ist ein stets neu justierbares Werkzeug zur linearen Verbindung zwischen den bekannten Zahlen, welche zugleich die unbekannte Zahl zwingend markiert und also ermittelt. Die Operationslinie vollzieht die Anwendung der in der Anordnung der Zahlenstrahlen zuvor verkörperten Multiplikationsregel für eine konkrete Problemstellung. Ein universales arithmetisches Gesetz wird so dargestellt, das dessen partikuläre Anwendung dabei operativ ausgeführt werden kann: Visualität, Taktilität und Operativität verschwistern sich auf der inskribierten Fläche. Wir denken nicht nur mithilfe der Fläche, wir denken auf der Fläche.
8. Übersetzbarkeit: Die hier vorgestellte graphische Multiplikation ist durch eine Fülle alternativer Rechenverfahren realisierbar: Mit Perlenschnüren des Abakus, mit Kolumnen des Rechenbretts, in mannigfaltigen Formen von Multiplikationstabellen und -tafeln, als schriftliches Rechnen mit Dezimalziffern, Rechenschiebern und schließlich mit mechanischen und elektronischen Rechenmaschinen. So unterschiedlich diese Verfahren auch sind: in ihren Ergebnissen stimmen sie überein – oder sollten das zumindest tun.
Die Existenz einer unübersehbaren Vielfalt dieser Rechenverfahren führt uns drastisch vor Augen: Diagramme sind Bilder, die übersetzbar und ohne Informationsverlust ineinander transformierbar sind. Und zwar nicht nur von einer graphischen Form in eine andere, so, etwa wie wir eine Figur durch eine Formel, eine Formel durch verschiedene Notationssysteme realisieren können. Vielmehr kann mit der Übersetzbarkeit von Diagrammen auch eine ontologische Differenz überbrückt werden: Aus einer symbolischen Form kann ein technisches Artefakt werden: Die Programmierung ist dafür ein wirkmächtiges Beispiel. Denkzeug und Werkzeug können einander korrespondieren. Nichts ist so gut zu übertragen wie ein Diagramm. Es ist der ihm eigene Schematismus, der solche Übersetzbarkeit und Übertragbarkeit zu einem Konstituens des Diagrammatischen macht.
9. Faden und Stab bilden die kulturtechnischen Vorläufer der Linie: Anders als die stabilen, fixierten Hilfslinien im Multiplikationsdiagramm ist die Operationslinie ein bewegliches Element: eben wie ein Faden oder ein Lineal. Beide sind leicht auf der Fläche zu bewegen und wieder zu entfernen; anderenfalls würde die Multiplikationstafel durch häufige Benutzung unbrauchbar.